Podcast Folge #30

Über Selbstorganisation und Mitarbeiterführung

Kim Nena Duggen lernte ich auf dem Silpion-Sommerfest in Hamburg kennen, einem großartigen Ort zum Netzwerken und Wiedersehen. Ihre Geschichte und vor allem tiefes Know-how im Bereich der Selbstorganisation von Unternehmen haben mich gleich fasziniert und so saßen wir uns wenig später gegenüber und nahmen einen  Podcast auf. Ob über Soulbottles, Genossenschaften und die Stärken und Schwächen der Extrovertierten, hier finden sich nun die lehrreichsten Gedanken zu “Papier” gebracht.

Kim ist, wenn man sie einmal sprechen hört, so schnell im Kopf wie auch in ihrem Lebenslauf: mit einem Studium im Prozessmanagement an der FH in Hamburg beginnt die Auseinandersetzung mit Geschäftsprozessen und Organisationsentwicklung. Obwohl sie das Thema fesselt, bleibt wenig später doch ein fader Beigeschmack zurück: was macht man mit so einem Abschluss eigentlich außerhalb der klassischen Konzernarbeit? Wäre die Uni besser gewesen? Zweifel machen sich schnell breit, wenn es keine klaren Ziele und Visionen in der breiten Ausbildungslandschaft gibt. Schnell schaltet sie um und merkt: es ist 2008 und einiges bewegt sich im Arbeitsumfeld, viel wird neu diskutiert, umfassende Methodenkataloge werden veröffentlicht. 

Kim startet aber ganz traditionell bei einem Automobilzulieferer in Liechtenstein und findet sich in einer Welt wieder, die sich fernab von allen progressiven Debatten ganz konventionell dem Thema Führung widmet. Für leidenschaftlich mitdenkende Personen, die Veränderungen mitgestalten wollen, also Angestellte wie Kim, wird diese Herangehensweise immer unattraktiver. Wie kann sie ihre Interessen einbringen? Und ist Führungskraft sein wirklich das Ziel? Einlassend auf diese neuen Gedanken, bringt sie ständig neue Ideen und Visionen ein, die aber in ihrem Umfeld kaum realisiert werden können:

“Ich lernte zum Beispiel: man muss nicht immer Chef sein. Als ich dann diese ganzen Themen um Selbstorganisation kennenlernte, merkte ich plötzlich: man muss auch nicht 300 Leute in einem Konzern führen. Unternehmerische Performance ist eine Frage deiner Werte. Und ich musste mich fragen: Was sind meine Werte?”

“Agilität hat mich völlig neue Wege gehen lassen.”

Während ihrer Zeit in der klassischen Prozessoptimierung ging es niemals um die Menschen, das betont sie gleich zu Anfang unseres Gesprächs.  Der Fokus der Führungsebene bleibt, bei allen Zugeständnissen der letzten Jahre, am Ende immer immer effizienzgetrieben und technisch orientiert. Mal geht es um eine bessere IT-Infrastruktur oder um eine klare Kapitalisierung auf mehreren Geschäftsfeldebenen. Menschen sind, so schrecklich es auch klingt, Ressource und Teil der Marktkapitalisierung.

Für Kim jedoch klärt sich in dieser Phase ein Knoten, den sie seit Jahren lösen möchte: sie beginnt den Teams zuzuhören, Fragen zu stellen und Impulse der einzelnen Mitarbeiter*innen aufzunehmen. Effizienz ist nicht nur ein technisch-stilisierter Prozess, Effizienz findet durch Individuen statt. 

Die Frage in ihrem Kopf steht plötzlich ganz groß im Raum: wieso fragt niemand die Menschen, wenn doch alle Prozesse von ihnen geführt werden? Diese Frage begleitet die beginnende, große Metamorphose, hin zu einer innovativen Orientierung und einer kompletten Neuorientierung innerhalb ihres eigenen Wertesystems

“Ich bin überhaupt nicht grundsätzlich gegen Führungskräfte. Ich glaube nur es ist wichtig, sich das Team anzuschauen und zu schauen, was genau passt. Passt eine Führungskraft? Wofür wollt ihr eine? Um zu priorisieren oder um Verantwortung und Fehler alleine zu tragen?”

Sie beginnt bei oose, einem Unternehmen für innovative Informatik, als Coach. Ihr großes Glück ist ihr damaliger Chef, Bernd Oestereich, und seine völlig einzigartige Einstellung zu Leadership und Innovation. Als Vorreiter beginnt er das erfolgreiche Unternehmen in eine mitarbeitergeführte, genossenschaftlich-organisierte Firma zu transferieren und begibt sich damit, als deutscher Unternehmer, auf komplett neues Terrain. Er löst die Hierarchie und damit auch das konventionelle Verantwortungsgefüge komplett auf. Ein Novum.

Im Jahr 2011 gibt es in Deutschland nur einige seltene Beispiele, die sich dem Thema Führung mit einer völlig neuen Perspektive widmen. Mit neugierigen Augen und Zweifeln beobachten viele andere diese kuriosen Entwicklungen innerhalb IT-Firma. Warum macht er das? Und wann geht es schief?
Genau dieser Blick ist es, der Kim die Augen öffnet: sie lässt sich im Zuge der Transformation als Vorständin aufstellen und wird von den Mitarbeiter*innen gewählt. Zusammen mit einem Kollegen ist sie nun plötzlich ganz vorne in einem Unternehmen und damit Führungskraft, die eigentlich gar nicht mehr führt. Wie bitte?

Wie wird eine genossenschaftliche Satzung vernünftig angelegt? Werden Entscheidungen für das Unternehmen mehrheitlich oder konsensual getroffen? Was heißt es transparent Auskunft über Gehälter zu geben? Müssen wir das überhaupt? All diese Fragen entscheiden plötzlich die Mitarbeiter*innen untereinander. Eine stressige, aber unheimlich lehrreiche Kommunikation hält nun Einzug in das Hamburger Office.

Klassische Absolutismen kennt sie nicht, weder New-Work-Aphorismen noch “diese eine Methode”, die immer mit allen funktionieren soll. Denn die gibt es einfach nicht. Wer Kim Nena Duggen nach Lösungen fragt, muss erst einmal Fragen beantworten.
New Work ist kein Erfolgsrezept. Glücklich und zufrieden sein und dann doch pleite zu gehen, bringt keinem Unternehmen etwas. Wie lassen sich also die beiden Dimensionen zusammen bringen: New Work und Monetarisierung?
Kims Frage klingt pragmatisch und wird oft im Alltag und in der Leidenschaft für innovative Praktiken übersehen: New Work darf nicht zu einem neuen Dogma werden, das die hierarchische Führungsmethode einfach nur ablöst und die Teams dann doch wieder alleine lässt.
Innovation und Kommunikation stehen gemeinsam auf einem Blatt. Und diese Kommunikation kann auch mal schief laufen. Soviel Zeit muss sein.

Der gute Zweck eines Vetos

Für Kim gab es einige sehr lehrreiche Momente: wenn ein Mitarbeiter von 30 ein Veto einlegen kann, heißt das, dass alle angehört werden müssen um eine Abstimmung zu erreichen. Ist das effizient? Nur wenn es Gebote gibt an die sich jeder hält.

So bedarf selbst ein Veto einiger Regeln und ist nicht immer nur ein klares Nein, sondern auch oft ein “Lasst uns nochmal darüber sprechen, ich habe eine andere Idee.”

Bei oose wird eine Gegenstimme stark gewichtet. Doch jede Gegenstimme heißt auch mehr Verantwortung. Folgende Fragen müssen dabei beantwortet werden: Betrifft mich die Idee so stark, dass ich das Unternehmen morgen verlassen würde? und Wie lautet mein konstruktiver Gegenvorschlag? In Opposition zu gehen, verlangt einiges ab. Alleine in dieser dann entstehenden Debatte finden sich oft Lösungen und Aufgaben, die sich als Individuum gar nicht antizipieren lassen. Warum also nicht gleich alle involvieren? Dass diese einvernehmlichen Entscheidungen alle einbezieht, aber gleichzeitig sehr kompliziert werden können, liegt auf der Hand.

 “So ein Votum heißt dann halt: wir benötigen eine Alternative. Keiner verlässt den Raum und niemand fühlt sich danach ungehört.”

Keine Gegner und trotzdem Widerstand - wie Neues unbewusst verhindert wird.

Einschneidend für Kim bleibt auch der Eindruck vom “Einschleifen alter Vorgehensweisen”. Das Klischee, dass in Unternehmen immer Menschen sitzen, die sich gegen die neuen Methoden und Visionen sträuben, hält sich hartnäckig. Dabeei sind althergebrachte Strukturen oftmals passiv etabliert, werden unbewusst erhalten und lassen sich nicht auf einen personellen Ursprung zurückführen. Nicht ganz grundlos sollte deshalb jedem ernsthaften Change-Prozess eine gewissenhafte Bestandsaufnahme vorher gehen: wir sind uns unserer Vorurteile und Projektionen nicht bewusst und entstauben nur widerwillig unser Erlerntes.

Soulbottles, Einhorn und die Spitze der Veränderung

Was 2008 wie eine ganz neue Welt klingt, hat mehr als 10 Jahre später große Unternehmen zu innovativen Vorreitern positioniert. Firmen wie Einhorn und Soulbottles, die sich selbst organisieren und zum Beispiel zusammen mit der Purpose Foundation Selbstorganisation und Visionen sogar in bindende Gesellschafterverträge umwandeln, sind erst seit kurzem auf dem Schreibtisch vieler Unternehmer*innen. Vergessen wird dabei oftmals die erforderliche, aber unattraktiv klingende due diligence, die so einem Vorhaben voran gestellt sein muss. Es gibt keine allgemeingültige, fantastische Methode, die die Angestellten glücklich und die Firma erfolgreich macht. New Work heißt Auseinandersetzung und Konfliktfähigkeit. Mit den Bedürfnissen des Teams und vor allem, wie abgedroschen es auch klingen mag, mit sich selbst. Angestellte stehen nicht selten vor der neu gewonnenen Freiheit und können diese nicht anwenden. Jede Reise hin zur Selbstorganisation ist auch eine extrem ehrliche Reise zu sich selbst. Wie möchte ich arbeiten und warum? Welche Regeln benötige ich? Auf welche möchte ich verzichten? New Work und Agilität haben den großen Vorteil (und ja, auch den großen Nachteil) diese Frage bis zur Schmerzgrenze stellen zu können.