Podcast Folge #45

Aus der Finanzwelt zur Geschäftsführerin von Amnesty Deutschland.

Wenn ich an Lanna Idriss denke, dann denke ich an eine unfassbare und mutige Kraft, die diese Persönlichkeit umgibt. Einige Tage lang habe ich mich auf dieses Interview gefreut – noch mehr freue ich mich, die Ergebnisse heute in Ton und Text vorzustellen.

Für alle, die sich mit dem Gedanken herumschlagen, einfach komplett die Karriere einzutauschen und sich bisher nicht ganz trauen – hier ist eine Frau, die ihr unbedingt kennenlernen solltet.

Die Reichen noch reicher machen?

Schon ganz früh, mit 19, wuchs in Lanna der Wunsch, etwas an die Gesellschaft zurückzugeben, Wertvolles zu leisten und anderen zu helfen. Das große Ziel, zu dieser Zeit in der UNO zu arbeiten, wurde jedoch wie vieles in unser aller Karrieren wenig später von der Realität heimgesucht:

“Ich wollte ganz früher die allererste UNO-Generalsekretärin werden. Dann habe ich gemerkt, die UNO ist nicht notwendigerweise eine Friedensorganisation. Was kann ich also Gutes tun?”

Sie entscheidet sich für den Kontrast. Wird Bankerin, Unternehmensberaterin und lebt ein anderes Leben als vormals erhofft.  “Dann bin ich also in eine Bank, die die Reichen noch reicher macht.” 15 Jahre lang verbrachte sie in der harten Finanzwelt. Ein Kontrast, der seinesgleichen sucht.

Parallel forscht sie nach Auswegen aus dieser ethischen Gewissensfrage. Das jährliche Spenden von 50 % des eigenen Gehalts, das betriebliche Engagement für mehr Corporate Social Responsibility und Gerechtigkeit – all diese Projekte füllten ihren Wunsch nach Veränderung in der gegenwärtigen Marktwirtschaft. Ihren Freiraum nahm sie sich auch in dieser männerdominierten Branche, in der sie sich, so klingt es an, doch immer anders durchsetzte als ihre Kollegen und Kolleginnen. Die erkämpfte Freiheit durch hohe Leistung tröstete aber nicht über die Erkenntnis hinweg, dass der Spagat bestehen bleiben würde.

Wie kann Mensch Gutes tun und trotzdem Geld verdienen? Eine Frage, die Lanna Idriss in diesen Jahren vermutlich zu Genüge stellte. Der letzte Ausweg hieß dann schlussendlich raus. Raus aus der Branche, raus aus dem Ungleichgewicht zwischen Anspruch und Wirklichkeit:

“Ich war 15 Jahre dort ganz häufig die einzige Frau. Da habe ich sehr manövrieren müssen, um meine Überzeugungen zu vertreten und gleichzeitig Karriere zu machen.”

Der Schlüsselmoment des Wandels

Lannas Vater aus Syrien kommend, vermutet man als Erstes, wenn man über den Grund des einsetzenden Wandels nachdenkt. Doch überraschenderweise hatte das wenig mit der eigenen Familie zu tun. Der Wunsch für eine Organisation wie Amnesty International aktiv zu werden, entsprang einer ganz anderen Erfahrung: Durch ihre schon vorhandenen Engagements fand sie sich irgendwann in einer der absurden Momente wieder, die nur solch ein Spagat zustande bringt.

“Ich kam aus einem Flüchtlingslager aus dem Libanon. Übernachtete in Beirut in einem 5* Hotel und arbeitete tagsüber für die Bank. Abends kam ich nach Hause zurück, kaufte bei Alnatura meine Kichererbsen, ein Grundnahrungsmittel aus dem Land, aus dem ich gerade kam – für 3,99€. Die ganze Reise und alles dauerte nur 12-14 Stunden. Ich merkte dann einfach: Dieser Weg ist nicht der Richtige.”

Ohne richtiges Netzwerk, ohne eigene Kontakte und Unterstützung aus der Stiftungswelt war jedoch die Entwicklung von einer Senior Managerin zur Aktivistin fast undenkbar. Ein Plan musste also her.

Wie wechselt man die Seiten?

Lanna ist, trotz dieser 180° Wendung kein Fan des abrupten Wandels:  “Ihr braucht andere Netzwerke und einen anderen Bekanntheitsgrad. Aus der Finanzbranche in eine NGO kommend muss man auch Vorbehalte abbauen. Ich habe das ganz klassisch gemacht – mit Listen und Post-its abarbeiten.” 4 Tipps gibt sie für den zukünftigen Karrierewechsel mit auf den Weg:

  1. Netzwerkaufbau: Hier lohnen sich Events oder Treffen mit Menschen aus der Branche. Interesse zeigen, ist der erste Schritt. Niemand sollte wieder von vorne anfangen mit dem Bau der neuen Karrierelaufbahn. Die richtigen Kontakte bringen oftmals die Chance sich einzubringen.
  2. Bekanntheitsgrad: Neben dem Netzwerk braucht es auch ein größeres Publikum. Sichtbar werden und bleiben, und das über einen längeren Zeitraum sind wichtige Kriterien.
  3. Vorbehalte abbauen: Bankiers haben bei NGOs häufig keinen guten Ruf – überraschen sollte das nicht. Das heißt auch, Engagement muss echt und konsistent sein, um nicht Gefahr zu laufen “White Washing” für sich selbst zu betreiben.
  4. Strategie entwerfen und abarbeiten: Kein Karrierewechsel auf hohem Niveau gelingt ohne Taktik. Der Zufall sollte so wenig wie möglich bestimmen, wenn man ein klares Ziel verfolgt, dass noch weiter weg ist.

Der wichtigste Tipp – andere Tipps ignorieren, während die Entscheidung feststand und der Weg dahin Gestalt annahm, gab es viele Gegenstimmen. Von “Das kannst du deinen Kindern nicht antun” bis hin zu “Gott, ist das mutig” – alles wurde im Bekanntenkreis kommentiert und kritisiert. Dass man auf diese Stimmen mit großer Vorsicht hören sollte, wurde auch Lanna klar:

“Ich habe irgendwann verstanden, worum es geht. Ich halte Menschen einen Spiegel vor, dass solch ein Wandel geht. Die wollten nicht, dass ich wechsel’ und das zeige. Dann kommt eine die macht und das ist sehr schwierig für alle Gartenzaunschauer.”

Endgegner: Fokus

Nach diesem kleinen biografischen Ausflug dürfte es keinen wundern, dass die heutige Geschäftsführerin von Amnesty International ein Problem hat: Sie findet zu viele Dinge spannend. In der Beschäftigung mit diesem Endgegner hat sie aber im Laufe der Jahre einige Mittel und Wege gefunden, nicht gänzlich abzuschweifen. Schlagworte sind hier Pomodoro-Technik und Fokuszeiten.

Die Erkenntnis “Ich werde erst so richtig gut, wenn ich drin bleibe” ist eine, die viele unterschreiben, aber wenige einfach so umsetzen können. Also heißt es Methoden finden, die für einen selbst funktionieren, um den Fokus beizubehalten oder überhaupt herzustellen. Trotz ihrer großen Kritik an der Selbstoptimierung und Ratgeberliteratur stellte sie auch irgendwann fest:

“Ich arbeite gerne mit guten Coaches. Es macht einen etwas einfacher. Man kann sich da auf jeden Fall Hilfe holen.”

Ihre Rolle als Führungskraft und innere berufliche Ängste

Am Ende des Gesprächs stand für mich ganz groß im Raum: Hat Lanna Idriss eigentlich vor irgendetwas Angst?

“Ich habe große Zweifel, was unsere Gesellschaft angeht. Sorge um meine Kinder zum Beispiel, aber was meine berufliche Zukunft angeht, habe ich tatsächlich keine Ängste. Früher hatte ich eine Menge.”

Bei all dem Selbstbewusstsein bleibt aber trotzdem Raum für die kritische Stimme in ihr, die sich ganz klar ist:

“Ich bin nicht der 100 % Typ. Die letzten 20 % fallen bei mir immer unter den Tisch.”

Ein selbstbewusster Satz, der sich durch ihre gesamte Laufbahn und Entscheidungen zieht. Die Bedeutung von Teamwork, die eigene Fehlbarkeit anzuerkennen, sind auch Teil einer Standfestigkeit, die so einzigartig ist.

“Wenn ich es nicht verstehe, sollte ich entweder meinen Mund halten oder noch mehr lernen, bevor ich hingehe und Entscheidungen treffe oder es in gewisse Richtungen leite.”

Zum Abschluss: ein Aufruf für mehr Engagement!

Diesen Artikel möchten Lanna und ich mit einem großen Aufruf schließen: Die Grundrechte des Menschen werden zusehends eingeschränkt. Es wird immer enger und die Krisen immer nachhaltiger. Es gilt jetzt etwas zu tun und zu kämpfen. Lanna Idriss und ich möchten also an dieser Stelle alle New Work Heroes aufrufen: Es ist der richtige Moment für Engagement. Die Welt kann nicht mehr warten. Spendet! Seid aktiv! Seid laut für politische Gefangene! Unterschreibt Petitionen und lasst euch eure Karrieren nicht vorschreiben. Lanna Idriss machts vor.

www.amnesty.de/spenden