Über Large-Scale Scrum und Product Discovery

Robert Briese ist einer von nur 29 zertifizierten LeSS-Trainern weltweit – und in diesem Gespräch klären wir, was es wirklich bedeutet, Agilität zu skalieren. Von seinen Anfängen im traditionellen Projektmanagement bis hin zur Förderung echter Transformation durch Systemdenken und Kundenko-Kreation teilt Robert seine ehrliche, erfahrene Meinung darüber, was beim Aufbau von Produkten in großem Maßstab funktioniert und was nicht.

Über die letzten sechs Jahre hatte ich die Freude, eng mit Robert Briese zusammenzuarbeiten – nicht nur als Freund, sondern auch als Mentor und Geschäftspartner in agilen Transformationsprojekten. Wir haben gemeinsam Teams und Führungskräfte bei Yello, adidas und 50Hertz gecoacht. Ich war Teil vieler seiner Certified LeSS Practitioner (CLP)-Schulungen und wir haben bei den LeSS-Konferenzen in Berlin und Madrid gemeinsam Vorträge gehalten und unsere Erfahrungen ausgetauscht.

l Robert ist einer von nur 29 zertifizierten LeSS-Trainern weltweit. Seine Fähigkeit, tiefes Systemdenken in praktische Team- und Produktentwicklungsarbeit umzusetzen, ist echt selten. Während ich selbst auf dem Weg zum LeSS-Trainer bin, sind unsere Gespräche immer intensiver geworden. Was mich an diesem Podcastinterview besonders beeindruckt, ist nicht nur Roberts Fachwissen, sondern auch die Klarheit, mit der er über komplexe Zusammenhänge spricht – und seine Bereitschaft, die Konzepte die er lernt auch selbst zu hinterfragen. Das hat mir wieder bewusst gemacht, dass es bei Agilität nicht darum geht, alle Antworten zu haben, sondern aufmerksam zu sein und sich auf die tatsächliche Arbeit zu konzentrieren.

Diese Podcastfolge ist ein extra langes Gespräch zwischen uns auf Englisch – aufgenommen in seinem Garten zu Ende des Sommers 2024. Wir sprechen offen über die echten Herausforderungen, die mit der Skalierung von agilem Denken und der Entwicklung wertstiftender Produkte verbunden sind und über die Freuden und Kämpfe auf unserer Reise als Solopreneure. In diesem Blogbeitrag möchte ich vier der Kernthemen, die wir in der Folge angesprochen haben, näher beleuchten. Zu den wichtigsten Themen dieser Folge gehören:

  • Was Systemdenken (Systems Thinking) in der Produktentwicklung wirklich bedeutet
  • Warum Scrum allein dein Unternehmen nicht agil macht
  • Wie LeSS den Fokus auf das Produkt in großen Teams bringt
  • Warum Kennzahlen zur „Produktivität“ wie die Anzahl der Funktionen und Zeilen Code irreführend sind
  • Die Vorteile der direkten Zusammenarbeit mit Kunden bei der Produktentwicklung
  • Wie Achtsamkeit und Absicht unsere Art, Veränderungen zu gestalten, beeinflussen können

Innere Zweifel und die Denkweise von Freiberuflern

Robert redet offen über die Zweifel, die man als Freiberufler hat: die Unsicherheit zwischen den Projekten, die fehlende Stabilität und die ständige Frage, ob man in einem schnelllebigen Bereich noch relevant ist. Er erzählt, wie emotional es ist, gute Arbeit zu liefern, ohne zu wissen, was als Nächstes kommt. Viele Freiberufler und Unternehmer kennen das – den Drang nach Unabhängigkeit und Wachstum. Dieser Raum des Nichtwissens hat Robert 2011 schließlich zu Agile geführt. Er erkannte, dass die traditionellen Tools, die er in SAP-Projektumgebungen einsetzte, für die Komplexität, mit der er konfrontiert war, grundlegend ungeeignet waren. Agile war nicht nur eine neue Reihe von Methoden – es war eine Möglichkeit, den Kampf gegen die Komplexität aufzugeben und stattdessen mit ihr zu arbeiten. Dieser Wandel vom Managen zum Anpassen hat Roberts heutige Sichtweise auf Teams, Systeme und Führung geprägt. Das hat mich echt angesprochen. Als jemand, der auch schon mit der Unklarheit projektbasierter Arbeit zu tun hatte, habe ich erkannt, dass die emotionale Belastbarkeit, die wir als Solopreneure aufbauen, oft die Anpassungsfähigkeit widerspiegelt, die wir von den Teams erwarten, die wir coachen.

Systemdenken im Mittelpunkt von LeSS

LeSS (Large-Scale Scrum) ist nicht einfach nur Scrum mit zusätzlichen Ebenen. Tatsächlich werden Ebenen bewusst entfernt (less is more). Im Mittelpunkt steht das Bekenntnis zu Systems Thinking – die Idee, dass jede Struktur, jede Richtlinie und jede Entscheidung in einer Organisation Teil eines miteinander verbundenen Ganzen ist. Robert macht das ganz klar. Es geht nicht nur darum, dass agile Teams Sprints machen. Wenn die Art, wie du Leute einstellst, bezahlst und Berichte machst, immer noch in Silos und Kontrolle feststeckt, kommt es zu Reibungen – oder schlimmer noch, zu systemischen Fehlern.

“One of the key ideas is systems thinking. It’s about really understanding that the entire organization is a system — and that every small influence matters. How you pay people, how you hire, how teams are structured — all of it impacts the system as a whole. If you’re only focusing on improving HR practices, for example, you might make HR more efficient — but at the same time, you could completely disrupt the balance of the larger system.”
— Robert Briese

Für Unternehmen ist das auch eine der schwierigsten Veränderungen. Chefs wollen oft lokale Optimierungen – bessere Sprints, schnellere Lieferung – ohne zu überlegen, wie Anreize, Silos oder Berichtswege genau dieses Ziel behindern könnten. Genau hier setzt LeSS an. Es hilft Unternehmen, das ganze Produkt zu sehen, nicht nur das Team. Ein Product Owner, ein Backlog, mehrere Teams – und die Bereitschaft, zu sehen, wie alles zusammenhängt.

Product Discovery und Customer Centricity

Oft wird Agile nur auf Velocity Charts und Ticket-Refinements reduziert. Aber für Robert geht es bei der Produktentwicklung nicht darum, Anforderungen zu erstellen, sondern Werte zu entdecken. Es ist Wissensarbeit, keine reine Arbeit. Du lieferst nicht einfach das, was angefordert wurde. Du arbeitest mit dem Kunden zusammen, um herauszufinden, was benötigt wird. Er betont, wie wichtig es ist, echte Kunden in den Verfeinerungsprozess einzubeziehen – nicht nur Analysten oder Stakeholder. Und genau diesem Prozess der Produktentdeckung hat Robert seine aktuelle berufliche Laufbahn gewidmet.

“In software or product development, we rarely know what the client truly needs — even when they tell us. They might ask for something specific, only to realize it doesn’t solve their problem once they have it. That’s the nature of knowledge work: it’s complex, evolving, and hard to define upfront. That’s why involving users early, especially during refinement, is key. You need their insights, their pain points, their evolving needs — otherwise, you risk building the wrong thing with great efficiency.”
— Robert Briese

Das ist eine feine, aber wichtige Änderung. Anstatt zu fragen: „Was wollen Kunden, dass wir bauen?“, fragen wir: „Wie können wir herausfinden, was wirklich hilft?“ Dieses Lernen passiert nicht in Planungsräumen, sondern in echten Gesprächen, durch gemeinsames Entdecken und Feedback-Schleifen.

Produktivitätstheater und sinnvolle Arbeit

Einer der spannendsten Momente in unserem Gespräch ist, als Robert die Illusion von Produktivität anprangert, die immer noch in vielen agilen Umgebungen herrscht. Es ist leicht, sich zu beschäftigen. Es ist leicht, viel Code zu schreiben. Es ist leicht, Features zu liefern. Aber die Frage bleibt: Bauen wir das Richtige?

“You could be ten times as productive. But if you build the wrong features, no one will buy your product. All those lines of code? Meaningless. It’s productivity theater if no one needs what you built.”
— Robert Briese

Ich hab das schon in so vielen Teams gesehen: viel Energie, toller Output – aber kein klarer Mehrwert. Roberts Hinweis, dass wir den Sinn messen sollten, nicht die Geschwindigkeit, bringt so viel Klarheit in den Agile-Bereich. Hier wird Agile wieder sinnvoll. Nicht als Methode, die man befolgt, sondern als Disziplin zur Wertschöpfung. Und hier kommt auch die Führung ins Spiel – indem sie Ergebnisse über Output stellt und mutig genug ist, Nein zu sagen, wenn etwas nicht funktioniert.

Fazit: Slow Thinking, Deep Work und langfristiges Denken

Die Heldenreise mit Robert ist nicht mit Zaubertränken oder schnellen Lösungen gespickt. Sie ist nachdenklich, detailliert und basiert auf jahrelanger echter Arbeit. Sie erinnert mich daran, dass Agilität nicht nur darum geht, Prozesse zu ändern. Es geht darum, wie wir Arbeit sehen, wie wir mit Unsicherheit umgehen und wie wir Lernen gestalten. Und vielleicht geht es auch ab und zu einfach darum, langsam einen Podcast unter Bäumen mit einem guten Freund aufzunehmen – und der Komplexität des Gesprächs Raum zu geben. Auf meinem Weg zum LeSS-Trainer erinnern mich Gespräche wie diese daran, worum es wirklich geht: nicht um die Skalierung von Methoden, sondern um die Skalierung von Lernen, Verbindung und Absicht.

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