Ich habe an agilen Zertifizierungen, Kundalini-Yoga-Intensivkursen, Tantra-Workshops, Coaching-Schulungen, Jahresgruppen und sogar an Plant Medicine Zeremonien teilgenommen. Was mir dabei immer wieder aufgefallen ist: Die wichtigsten Momente stehen selten auf den Folien oder in den Lehrinhalten. Sie finden zwischen Menschen statt. In der Stille, dem Unbehagen, der Reibung. In der Gruppe beginnt die eigentliche Arbeit. Für diese Podcastfolge, in englischer Sprache, ist also ein Leitfaden entstanden. Eine Sammlung von den Dingen, von denen ich mir wünschte, jemand hätte sie mir früher gesagt. Bevor ich auf mein erstes Retreat gefahren bin. Ich führe dich durch vier wesentliche Schritte der transformativen Gruppenarbeit. Fangen wir an:
- Die Gruppe ist dein Spiegel
- Grenzen setzen ist die wichtigste Übung
- Integration ist die eigentliche Arbeit
- Warum du (wohlmöglich) ein Retreat brauchst
Die Gruppe ist dein Spiegel
Eine der ersten und wichtigsten Erkenntnisse, die einen trifft – manchmal schmerzhaft, manchmal überraschend schön – ist diese:
„Was dich an anderen nervt oder aufregt, ist oft eine versteckte Botschaft von dir selbst.“
Es sind nicht die Übungen, es ist nicht der Ort und es sind nicht einmal die Trainer:innen, die deine Transformation am meisten prägen. Es sind die Menschen um dich herum. Retreats sind Gruppenerfahrungen. Und in einer Gruppe zu sein bedeutet, dass du dich in anderen spiegelst – ob es dir gefällt oder nicht. Ich möchte dir ein paar Beispiele nennen, die immer wieder auftauchen.
Da ist der laute Typ. Er meldet sich immer als Erster zu Wort, dominiert das Gespräch und füllt den Raum mit seiner Meinung. Und zuerst ist es nervig. Du denkst dir: „Warum nimmt er immer so viel Raum ein?“ Aber dann fragst du dich: Warum fällt es mir so schwer, das zu tolerieren? Vielleicht zeigt er dir etwas – vielleicht ist es der Teil von dir, der sich wünscht, du wärst so selbstbewusst. Vielleicht möchtest du dir auch mehr Raum nehmen, aber du hast dir selbst noch nicht die Erlaubnis dazu gegeben.
Dann gibt es die erfolgreiche Frau. Sie spricht offen über ihre jüngste Beförderung, ihre geschäftlichen Erfolge und die Meilensteine, die sie erreicht hat. Es klingt ein bisschen wie Angeberei. Und wieder trifft es etwas in dir, aber schau genau hin. Vielleicht wirst du nicht deshalb getriggert, weil sie stolz ist, sonder, weil du es nicht bist?! Vielleicht fühlt sich ein Teil von dir zurückgesetzt oder nicht gesehen oder unsicher, ob es in Ordnung ist, offen über das zu sprechen, was du erreicht hast – oder was du noch willst.
Und dann gibt es die sinnliche Person. Sie trägt offene Kleidung, bewegt sich langsam und mit Absicht, hält länger als gewohnt Augenkontakt. Sie scheint zu viel zu sein. Das ist dir unangenehm. Aber geht es wirklich um diese Person? Oder gibt es etwas in dir – eine Sehnsucht, ausdrucksstärker, freier, mehr in Kontakt mit deiner eigenen Sinnlichkeit zu sein –, das noch keinen Raum gefunden hat, sich zu zeigen?
Das sind nur ein paar Beispiele, aber sie sind wichtig. Denn sie zeigen, worum es bei der Arbeit mit Retreats wirklich geht: sich an einem Ort aufzuhalten, an dem jeder zum Spiegel werden kann. Ein Spiegel für die Teile von dir selbst, die du vergessen, unterdrückt oder einfach nie zum Sprechen zugelassen hast. Und wenn man das erst einmal erkannt hat, wird die Gruppe zu deinem Lehrer.
Grenzen sind heilig
Oftmals wird subtiler oder auch nicht so subtiler Druck ausgeübt, sich voll und ganz an Gruppenübungen zu beteiligen. Und das ist nicht immer gut. Wie meine Therapeutin mir einmal sagte: „Gruppenarbeit kann gefährlich sein.“ Und ich stimme ihr zu – nicht, weil Retreats schlecht sind, sondern weil sie Menschen dazu bringen können, ihre emotionalen Grenzen zu überschreiten, ohne dass sie es merken. Deshalb ist das nächste Zitat so wichtig:
„Du musst nicht zu allem Ja sagen. Nein zu sagen kann dein tiefstes Ja sein.“
In vielen Retreats herrscht die Überzeugung, dass man „alles geben“ muss, um sich wirklich zu verändern. Wie das aussehen kann? Es ist die Aussicht auf Duchbrüche, Zusammenbrüche, mystische Erfahrungen und ganz viel Tränen. Aber diese Überzeugung kann schädlich sein. Denn manchmal ist nicht mehr Input oder mehr Offenheit gefragt – sondern es geht um die leisen Töne, mehr Stille, mehr Distanz. Und oft ist dieser Gruppendruck auch schwer zu erkennen. Zum Beispiel in den Sharingrunden im Kreis der Gruppe, wenn jemand etwas sehr Emotionales teilt – über den Verlust des Arbeitsplatzes, Burnout, Angst und plötzlich verändert sich die Stimmung. Was dann leicht passieren kann, ist das Gefühl, dass du dieser Intensität entsprechen musst. Du verspürst vielleicht den Drang, dich ebenfalls zu öffnen, zu weinen, etwas Verletzliches zu sagen – selbst wenn dein Körper nein sagt. Dann ist es entscheidend, auf dein eigenes Signal zu hören. Bist du wirklich bereit? Oder überschreitest du deine eigenen Grenzen, um dazuzugehören, um gesehen zu werden, um dich nicht ausgeschlossen zu fühlen?
Dies wird noch wichtiger in Bereichen, die tantrische oder sexuelle Energiearbeit oder Plant Medicine betreffen. Dies sind mächtige, intime Werkzeuge – aber sie sind keine Abkürzungen. Sie erfordern emotionale Erdung, psychologische Stabilität und geschickte Vermittlung. Wenn du dich nicht bereit fühlst, ist es in Ordnung, nein zu sagen.
Wenn du eine Session verlassen oder ausschlafen musst, anstatt um 7 Uhr morgens zur Atemübung zu erscheinen, ist das auch in Ordnung. Du verpasst nichts. Du machst die Arbeit – den Teil der Arbeit, bei dem es darum geht, auf sich selbst zu hören.
Manchmal sieht Wachstum so aus, das du dich voll reinstürzt. Und manchmal sieht es so aus, das du dich umdrehst und gehst.
Integration ist die eigentliche Arbeit
Nach einem Retreat stellt sich immer die Frage: „Wie kann ich das alles in meinen Alltag integrieren?“ „Wie kann ich die Energie, die Klarheit und die Offenheit, die ich hier gespürt habe, beibehalten, wenn ich wieder zu Hause bin?“ Und die ehrliche Antwort lautet: Es hängt von dir ab. Die Coaches, Moderator:innen und Körpertherapeut:innen auf Retreats sind keine Magier:innen. Sie schaffen einen Raum und leiten an. Aber in dem Moment, in dem das Retreat endet, beginnt die eigentliche Arbeit. Denn …
„Trainer:innen und Moderator:innen halten den Moment. Aber du hältst das Ergebnis in deinen eigenen Händen.“
Integration geschieht nicht immer sofort. Manche Erkenntnisse brauchen Wochen oder sogar Monate, um sich zu verstetigen. Eines Tages führst du ein schwieriges Gespräch und – ohne darüber nachzudenken – wendest du die eine Sache an, die du in einem Workshop über gewaltfreie Kommunikation gelernt hast. Oder du spürst, wie sich ein Burnout ankündigt, und erinnerst dich an die Atemübungen aus dem Kundalini-Yoga-Retreat. Das ist Integration. Ruhig. Persönlich. Langfristig. Und es funktioniert am besten, wenn es sanft ist. Überfordere dich nicht mit einer strengen neuen Routine, sobald du nach Hause kommst. Erwarte nicht, dass du zwei Stunden früher aufstehst, Eiskalt duschst, Tagebuch führst und 30 Minuten vor deinem ersten Zoom-Anruf meditierst.
Beginne mit 10 Minuten. Ein paar Atemzüge. Stell dir eine einfache Frage in deinem Journal: „Was brauche ich heute?“ Und nach einem Retreat, bleib erstmal ein wenig bei dir. Es ist nicht empfehlenswert deinem besten Freund von all deinen Erfahrung zu erzählen, noch vor deinem Rückflug. Lass das Erlebte auf dich wirken. Manche Erfahrungen sind zu frisch, zu persönlich, zu heilig, um sie sofort zu erklären. Sie verdienen Zeit. Schreibe Dinge auf und schau bei Bedarf noch einmal in deinen Notizen vom Retreat nach. Bleib neugierig – und gib dir selbst die Erlaubnis, in deinem eigenen Tempo zu wachsen.
Warum du (wohlmöglich) ein Retreat brauchst
Manchmal werde ich gefragt, warum ich nach all den Jahren immer noch zu Retreats fahre. Meine Antwort? Weil dieser Raum der Weite alles verändert. Wenn du aus deiner gewohnten Umgebung herauskommst – dein Telefon, dein Kalender, deine Familie, deine Erwartungen – gibt das deinem Geist und Körper ein Signal: Das ist anders. Und wenn alles anders ist, können neue Dinge geschehen.
“Um neu zu beginnen. Um dich selbst zu erkennen. Um aus der Routine auszubrechen und in die Wahrheit dessen einzutauchen, wer du bist.“
Ein Retreat ist ein Neustart. Eine Unterbrechung deiner Muster. Und es muss nicht spirituell, emotional oder wild sein. Es kann so einfach sein, wie die Routine hinter sich zu lassen und sich voll und ganz auf eine Sache zu konzentrieren – mit einer Gruppe, die dasselbe tut. Wenn du nicht von deinen üblichen Gewohnheiten und Rollen umgeben bist, kannst du auf Teile von dir selbst zugreifen, die normalerweise verborgen sind. Und wenn du in einer sicheren, gut moderierten Gruppe bist, findest du vielleicht den Mut, diesen Teilen Raum zu geben, damit sie zum Vorschein kommen können. In dem Raum eines Retreats ist das Potenzial für tiefgreifende Veränderungen real.
Ein großes Dankeschön an euch Caroline und Nicole, dass ich ein zweites Mal beim Nourish Retreat in Santanyi im Cal Reiet dabei sei konnte. Vielen Dank für die Gestaltung des Containers, aus dem ich gerade zurückgekehrt bin – der Raum, die Weichheit und die Struktur, die ihr geschaffen habt, haben mich zu diesem Beitrag inspiriert. Und wenn du über deine nächsten Schritte nachdenken möchtest, würde ich dich gerne unterstützen. Hier kannst du eine Session für ein individuelles Coaching mit mir buchen.
Danke, dass du bis hierher gelesen hast. Ich hoffe, dieser Leitfaden gibt dir etwas mit auf den Weg – wohin auch immer dich deine nächste Gruppenerfahrung führen mag.